Prolog
Poste (je ein Bild von) 10 Bücher(n), die Eindruck hinterlassen haben. So in etwa lautete vor einigen Wochen mal wieder der Aufruf eines Facebook-Kettenbriefs. Und mit jedem Bild/Post durfte jemand neues „nominiert“ werden, der/die dann vor der gleichen Aufgabe oder Ehre stand. Bei mir laufen solche Aufrufe in der Regel ins Leere bzw. erreichen eine Sackgasse. Dieses Mal jedoch war es etwas anders. Bücher. Facebook. Da muss doch ‘was gehen – auch bei mir und für mich. Also fing ich an, darüber nachzudenken, was ich unter „Eindruck hinterlassen“ verstehe, verstehen will. Wären das also Werke der Weltliteratur, die mich beeinflusst haben, mit denen ich selbst als belesen Eindruck machen möchte? Oder vielleicht doch eher die Werke, die z.B. eng mit meiner Liebe zu Italien verbunden sind? Politik-Gedöns, gar Politiker*innen-Biografien, um meine ideologische Festigung zu demonstrieren? Mit alle dem kam ich irgendwie nicht vorwärts. Also anders anfangen. Was prägt mich? Und welche Bücher sind dafür sowohl prägend als auch aussagekräftig, vielleicht als eines für einen ganzen Teil von mir. Und wo gibt es vielleicht sogar Schnittstellen. Schon besser.
Am Anfang war das Wort.
Natürlich darf bei mir die Bibel nicht fehlen. DasBuch halt. Groß geworden bin ich in einem reformiert-protestantischen, sozialdemokratischen Elternhaus. (Zu zweitem komme ich später zurück.) Über Kindergottesdienst, Katechumenen- und Konfirmandenunterricht, Konfirmation, selbst Begleiter von Konfirmandenfreizeiten, Radfreizeiten mit dem CVJM und, und, und.
Mein Tauf- und Konfirmationsspruch („Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte / und meine Zuversicht setze auf Gott den HERRN, dass ich verkündige all dein Tun.“, Psalm 73, 28) begleitet mich nun gut seit über 50 Jahren. Vor über 20 Jahren haben Dagmar und ich 1. Korinther 13 zum Trauspruch gewählt: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. (…) Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Zunächst hatten wir Vorbehalte, allein, weil das einer der, wenn nicht gar der am häufigsten gewählte Trautext schlechthin ist. Aber er passt doch zu uns und begleitet uns gut. Zur kirchlichen Trauung bekamen wir die Stuttgarter Erklärungsbibel als Traubibel von unserem Pfarrer geschenkt. Sie steht bei uns nicht nur dekorativ im Regal.
Das ist der Widerspruch unserer Zeit:
Auf deutschem Boden sammeln sich die Sozialisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ – so lautet eine verballhornende Kurzfassung des Godesberger Programms, kreiert aus Teilen dessen ersten und letzten Satzes.
Wie der Glaube begleitet mich die Politik seit Kindesbeinen an. Mein Vater war in der Kommunalpolitik meiner Heimatstadt Moers aktiv, das Parteibuch habe ich als 17jähriger von Jürgen Schmude überreicht bekommen – mit dem wiederum meinen Vater bereits eine gemeinsame CVJM-Jugend aus den 1950ern verbindet. So viel zu den langen Linien. Dazu gehört aber auch, dass ich nicht wegen, sondern eher trotz Helmut Schmidt in die SPD eingetreten bin: 1984 als entschiedener Gegner des NATO-Doppelbeschlusses, geprägt in der kirchlichen Friedensbewegung.1 Aber für mich war damals und ist heute immer noch die SPD die Partei, in der ich für mich die besten Chancen sehe, etwas zu bewegen. Im vermeintlich „Kleinen“ der Kommunalpolitik als Stadtverordneter in Bonn oder aber im „Großen“ für die Energiewende und die Anpassung an den Klimawandel. Dazu an anderer Stelle mehr.2
Kindheit
Wenn ich in meiner Erinnerung weit zurückgehe, komme ich zu den Büchern, die vor allem meine Mutter mir vorgelesen hat. Die kleine Raupe Nimmersatt, Borka, Das kleine Gespenstund, und, und. Und: Die Kinder aus Bullerbü! Alle drei Bände! Immer wieder! Dann auch selbst lesen! Und was soll ich sagen: Am meisten haben mich – warum auch immer – die Mädchen beeindruckt. Die Jungs waren mir recht egal. Oder hatte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben verliebt? In eins der drei Mädchen? Nur welche? Ich erinnere mich nicht mehr. Vielleicht sollte ich die Bücher noch mal lesen und dann auch über Rollenklischees nachdenken. Ich glaube aber nicht, dass die – trotz des „klassischen“ Titelbilds – nur rosarot und hellblau sind. Interessanter Weise haben mich die anderen Astrid Lindgren-Bücher nicht so sehr gefesselt.
Sturm und Drang
Irgendwann kam dann in der Mittelstufe die unvermeidliche Textanalyse und ‑interpretation auf den Lehrplan. Mein Pech: meine damalige Lehrerin dachte in engen Kategorien von richtig und falsch. Insbesondere meine Erstinterpretation war häufig – vorsichtig formuliert – kreativ, in ihren Augen also völlig falsch. Wir konnten uns dann irgendwann nicht mehr leiden. In der Oberstufe bekam ich dann einen Lehrer, der erstmal jede Interpretation gelten ließ, uns Schüler*innen aber das Rüstzeug gab, sich dem Text zu nähern und dann den ersten Ansatz noch einmal selbst zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren. Und das tatsächlich mit diesen sprachgewaltigen Texten den Sturm und Drangs. Eine wichtige Rolle spielte dabei natürlich auch die Einordnung in die Zeit des Entstehens, hier also eine durchaus hochpolitische Zeit. Eine wunderbare Ergänzung zur schulischen Auseinandersetzung mit diesen Texten war, dass das Schlosstheater Moers zeitgleich die Minna spielte. Oder die Räuber? Egal. Schön war’s!3
Tee und Räucherstäbchen
Trotz der schulischen Wirrungen um „den richtigen“ Textzugang habe ich auch eigeninitiativ gelesen. Im Altern zwischen 16 und 18, Anfang/Mitte der 1980er Jahre, im Dunstkreis von Friedensbewegung, Anti-Atom & Co. standen – und nun kommen doch die Standardwerke – Hermann Hesse, Erich Fried und andere ganz oben auf der Lektüre-Liste. Auch hier gilt: ich könnte gar nicht mehr zu jedem der Bücher etwas „aus der Lamäng“ sagen. Ich weiß aber, dass sie mich zum Nachdenken gebracht haben. Ja, es ging ums Welt- und Menschenbild, das Miteinander und nicht das Gegeneinander, die Welt, in der wir leben wollten. Das große Ganze also, der eigene Sturm und Drang. Vor allem aber denke ich gerne an viele Menschen zurück, mit denen ich zu der Zeit meine Zeit verbracht habe. Zu einigen habe ich noch heute oder mittlerweile wieder Kontakt, andere habe ich aus den Augen verloren, einzelne sind schon tot.
Wahnsinn? Vorahnung?
Dürrenmatts Physiker. Schul-Pflicht-Lektüre oder freiwillig oder beides, sich gar ergänzend? Jedenfalls hat mich die Physik ja schon früh interessiert. Nicht zuletzt auch die Zerrissenheit um die Möglichkeiten ihrer Entdeckungen. Kernspaltung, Kernkraft, Kernwaffen. Ist Grundlagenforschung wertfrei möglich? Ist sie um der Erkenntnis Willen zu legitimieren, oder haben Forschende immer auch die „andere Seite der Medaille“ zu beachten und auch zu benennen? Dürfen sie sie ausblenden oder dürfen, müssen sie gerade im Wissen darum arbeiten und die Erkenntnis aber auch stets im Lichte aller möglichen Auswirkungen diskutieren? Ist selbst physikalische Grundlagenforschung deshalb nicht immer per se politisch? Sollte man nach über 50 Jahren vergeblicher Mühe sich nicht langsam mal eingestehen, dass die wirtschaftliche Nutzung der Kernfusion eine Chimäre ist, die Grundlagenforschung am „Sonnenfeuer“ aber doch im Faustschen Sinne eine Berechtigung hat?[footnote]Die Kernphysik war letztendlich mein liebstes Nebenfach.[/footnote] Und merke: Verrückt sind am Ende die, von denen man es am wenigsten erwartet hat.
Die Musik
Ein Leben ohne Musik erscheint mir möglich, aber sinnlos. Meine musikalische Prägung in Kindheit und Jugend fand statt zwischen (Bachscher) Kirchenmusik, klassischen Konzerten und den LP-Sammlungen meines Bruders und meiner Vettern (ja, alles nur Jungs), die zwischen vier und 16 Jahren älter sind als ich: The Beatles, Pink Floyd, The Police, Patti Smith. Dazu natürlich Mal Sandocks Hitparade und Schlagerralley auf WDR2. Ab dem siebten Lebensjahr habe ich dann selbst in die Tasten gegriffen. Ich hatte eine ausnehmend gute Klavierlehrerin. Ich durfte und musste alles einmal ausprobieren, konnte mich dann aber auf das konzentrieren, was mir Freude machte. Und da bin ich – bis auf wenige Ausnahmen – im Barock hängengeblieben, letztlich vor allem bei Johann Sebastian Bach. Das schnörkellose Wohltemperierte Klavier, die Kunst der Fuge, die Inventionen.4 Die beiden Beispiele hier haben noch eine innerdeutsche Geschichte. 1983 zum Lutherjahr (s. unter 1) war ich mit meinen Eltern in der DDR unterwegs. Meine Klavierlehrerin hatte mir eine Liste von Notenbüchern mitgegeben, die ich mir vom fälligen Zwangsumtausch kaufen könnte. Die Edition Peters erschien ja auch in Leipzig. Das Wohltemperierte Klavier, dass eingentlich an Platz 1 der Liste stand, gab es nicht in der „Buch- u. Musikalienhandlung Johann Sebastian Bach“ in Eisenach – vielleicht zu diesem Zeitpunkt nirgends im Land. Also kaufte ich (unter anderem) die Inventionen und Sinfonien. Jahre später erwarb ich dann das Wohltemperierte Klavier der neuen “Edition Peters — Leipzig — London — New York”.
Die Fotografie
„Die Welt ist voller Farben“ – eigentlich ist der Titel schon Aussage genug. Der Weg zur guten Fotografie drohte bei meinen ersten Gehversuchen ein eher steiniger zu werden. In meiner Familie wird seit jeher viel fotografiert, die Spiegelreflex gehört – wie das Klavier und jede Menge Bücher – zur Grundausstattung des Bildungsbürgerhaushalts. Da aber Vaters Kamera für den Sohn zu wertvoll (und vielleicht zu kompliziert) war, bekam ich eine Kompaktkamera. Das Problem: Ich habe die Kamera eher gegen den Auslöser anstatt den Auslöser heruntergedrückt. Die Folge: Auf dem Foto war jede Menge Himmel und am unteren Rand ein paar Köpfe, Ameisen gleich. Das wurde in dem Moment anders, als ich Vaters abgelegte Rollei-Spiegelreflex bekam. Die lag richtig gut in der Hand. Von dem Moment an wurde es etwas mit Bildaufteilung, Belichtung, Fokus. Das – theoretische – Rüstzeug habe ich mir dann insbesondere durch diese Fotoschule und der genauen Betrachtung Fotos anderer erworben. Und natürlich durch eigenes Erarbeiten. Mittlerweile mit über 40.000 eigenen Aufnahmen.
In Raum und Zeit unterwegs
In den 1970er/80er Jahren gab es eine Fernsehserie „Unterwegs mit Odysseus“: Ein paar Menschen segelten mit einem 1½-Master kreuz und quer durch die griechische See, mehr oder weniger streng dem Mythos folgend. Dieser wurde dann – unterstützt durch Zeichentrick-Animationen – nacherzählt. Segeln – Griechenland – Archäologie: zusammen eine wunderbare Kombination. Die hier abgebildete Ausgabe habe ich gelesen, als ich 1992 selbst von Ithaka nach Kefalonia segelte. Mein Archäologie-Studium habe ich zwar nie wirklich ernsthaft verfolgt, aber drei oder vier Semester im Nebenfach neben der Promotion waren es dann doch.
Die Wissenschaft
Wo wir gerade beim Studium sind. Ich könnte hier einige Bücher auflisten, die Eindruck hinterlassen haben, die ich auch am liebsten in die nächstbeste Ecke verfrachtet hätte. In meine Top-Ten hat es nun ein Sammelband von Tagungsaufsätzen geschafft, der sehr wichtig für meine Dissertation war. Allein das Titelbild ist der Kracher. Wer sich ein wenig in den Polargebieten auskennt, wird unschwer links im Bild Grönland erkennen. Dass der rechte Teil exakt den gleichen Teil der Erde abbildet, ist erst bei genauerer Betrachtung zu erkennen. Diese Gegenüberstellung zeigt die Herausforderung, komplexe Daten so aufzubereiten, dass sie – mit einer gewissen Grundkenntnis dessen, worum es geht – visuell erfassbar werden. Ich hatte schnell den Ruf der „Abteilung für bunte Bilder“.5 Die eigenen Untersuchungen über die Entwicklung des Eises der Antarktis, selbst für gut zwei Monate auf diesem vermeintlich ewigen Eis gestanden zu haben, die Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen haben meine Sicht auf den menschengemachten Klimawandel geprägt. Zu dem es einen 97%igen Konsens in der Wissenschaft gibt. Man braucht nicht „an den Klimawandel zu glauben“.6 Er ist Fakt. Das hat ganz klare Auswirkungen auf mein politisches Handeln: Wie wollen wir unsere Kommunen ausgestalten, damit wir in 20 Jahren nicht buchstäblich den Hitzetod in den Städten sterben bzw. dass nicht nur die, die es sich leisten können, ein gutes Auskommen haben, sondern auch alle anderen nicht ins Schwitzen geraten.
Epilog
Was fehlt: Eine „Segelschule“, Reiseführer Umbrien/Toskana, Becksche Reihe über die deutsche Geschichte, Comics (Calvin und Hobbes, Asterix, Ralf König) und, und, und. Bücher sind ein prägender Teil meines Lebens. Ich könnte noch so viele aufzählen. Mit dieser Beschränkung auf 10 habe ich eine Auswahl und auch eine Reihung versucht, aber auf keinen Fall eine wie auch immer geartete Rangfolge erstellt. Vielleicht lohnt es sich, irgendwann mal 10 andere aus dem Regal zu picken. Sicher ergeben sich da auch Querverbindungen, fallen mir Geschichten und Geschichtchen dazu ein. Und natürlich kann ich auch die (nicht nur für Kunden) von mir gemachten Bücher betrachten. Aber das ist dann eine ganz andere Geschichte.
Ich bin gespannt, welcher Facebook-Kettenbrief, welche Nominierung mich als nächstes erreicht.
- Ich weiß, der NATO-Doppelbeschluss war bereits 1979, die Stationierungen ab 1983, und das konstruktive Misstrauensvotum (die „geistig-moraliche [sic!] Wende“), mit dem der große abgewählt wurde und der lange kam, war schon 1982.
- Und wer sich über die Löcher im Parteibuch wundert: Mein Vater hatte es mit dem seinen abgeheftet… Also: nicht nur protestantisch-sozialdemokratisch, auch preußisch-penibel war mein Elternhaus.
- Und auch ich habe die Reclam-Hefte „verziert“…
- Es ist schon imposant, was Pianisten wie Glenn Gould oder Keith Jarrett diese Werke interpretieren.
- Dass ich zu allem Überfluss bereits in Praktikumsarbeiten Fußnoten machte – wie auch hier im Blog immer noch –, wurde mit einem „Man merkt, dass Du mit einer Geisteswissenschaftlerin zusammen bist“ quittiert. Und das war sicher kein Kompliment.
- Ich glaube an Gott (s. unter 1). Punkt. Ende. Bei allem anderen geht es um Wissen. Oder es ist Ideologie (s. unter 2).