Zugegeben, es gibt zur Zeit vermutlich wichtigere Dinge, als sich mit der neuen Imagekampagne der Stadt Bonn auseinanderzusetzen. Aber vielleicht auch nicht. Denn ein Logo sagt viel darüber, wie sich der Logoträger selbst sieht bzw. (viel wichtiger!) wie er gesehen werden möchte.
Also, wo fange ich an? Da ich nicht genau weiß, was mich stört, zerlege ich erstmal die neuen Wort-Bild-Marke in ihre Bestandteile. Die Wörter… Nun, die Idee mit dem Zitat aus der Ode an die Freude ist schon gut, da gibt es nichts zu meckern. Also vielleicht eher die Schrift? Um dem nachzugehen, habe ich das Bild zu WhatTheFont1 heraufgeladen und analysieren lassen. Ergebnis: Es handelt sich um die Tartine Script (s. Bild links).2 Hmm. Und nun? Dass die Schrift gerade mal 75€ kostet, muss ja kein Manko sein. Es gibt viele gute (auch schöne) Schriften, die kostenlos sind, als Designer bekommt man in der Regel mit der Software (QuarkXPress, Adobe Illustrator,… ) einiges an Schriften mit dazu oder bedient sich auf Portalen wie TypeKit, deren auch kommerzielle Nutzung unter Umständen im Software-Abo enthalten sind. Also muss es an der Schrift selbst liegen. Da gibt doch die Beschreibung des Fonts einen guten Hinweis. Zitat: “FF Tartine Script is an informal face specially developed for food packaging”.3 Speziell für die Verpackung von Nahrungsmitteln entwickelt? Bitte, was? “Bonn, ich hab’ Dich zum Fressen gern”? Das kann doch nicht wahr sein! Oder doch? Oh, es gibt auch Anwendungs-Beispiele (mehr s. hier):
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Oh, weia, das war ja schon mal ein Griff ins Klo. Aber da gibt es ja noch das Bild der Wort-Bild-Marke, den Kussmund.
Ich hatte irgendwo in den letzten Tagen gelesen “Ich habe gehört, der hat das Bild aus dem Internet.” Hm, ok, mal einen Versuch bei Adobe Stock4, Suche nach “Kuss Mund”. Et voilà — die Lippen unten rechts sind’s (s. links). Das Bild (bzw. die passende Lizenz zur Nutzung des Bilds) gibt’s für knapp 10€ (oder entsprechend im Abo, s. oben). Auch hier gilt das, was ich bereits zum Thema Kosten von Schriften gesagt habe: Gut und kreativ muss nicht immer teuer sein. Das Honorar holen sich die Menschen, die Schrift oder Grafik erstellt haben, über die Anzahl der verkauften Lizenzen. So wird ja auch gutes für weniger Betuchte/Berufsanfänger/… erschwinglich. Aber zurück zum konkreten Objekt. Diese Lippen. Nein, dass ist doch kein Kussmund! Wurde da gerade mal gebützt? Aus dem Viererset hier hätte ich — wenn überhaupt — einen der beiden linken genommen. Aber es gibt auch so viele andere bei Adobe Stock (oder einem beliebigen anderen Photo Stock Lieferanten), die deutlich sexyer sind. Aber gut, mit dem Spruch Berlin sei sexy, hatte die Hauptstadt ja auch nicht nur Erfolg. Trotzdem. Mein Urteil: langweilig. Warum ist wenigstens da nicht der Original-Knutschmund von 1971 genommen worden? Ist der nicht von der Gestalterin selbst? Das ist doch eigentlich eine schöne Geschichte.
Überhaupt: der alte Mund, die alte Schrift, mit Punkt dahinter. Das war im ganzen eine Aussage. Bonn ist zum knutschen, und zwar kräftig. Punkt. Klare Schrift, klare Aussage. Punkt.
Und wenn dann der OB auf dem offiziellen Pressefoto zur Präsentation der neuen Kampagne eher aussieht wie ein [irgendwas Fach-]Verkäufer, der das Firmenlogo auf dem Hemdkragen trägt5, dann bin ich wieder bei Bild und Selbstbild der handelnden Personen. Und darüber rege ich mich als Bürger und Kommunalpolitiker dieser Stadt schon auf. Statt des Zitats aus der Schillers “An die Freude”, die von Bonns “größtem Sohn” vertont wurde, denke ich da eher an ein Zitat eines der Söhne der hier gerne verboten genannten Stadt: “Denk ich an den Kussmund in der Nacht…“6 — Das ist nicht Festspielhaus, das ist Beethovenhalle Minimalversion. Willkommen in der Provinz.
- WhatTheFont: https://www.myfonts.com/WhatTheFont
- Tartine Script bei MyFont (http://www.myfonts.com/fonts/fontfont/tartine-script) und FontFont (https://www.fontfont.com/fonts/tartine-script)
- Quelle: https://www.fontshop.com/families/ff-tartine-script#quote
- Adobe Stock: https://stock.adobe.com/de
- Pressemitteilung der Stadt: “Der Kussmund ist zurück!”, http://www.bonn.de/tourismus_kultur_sport_freizeit/topthemen/17340/index.html?lang=de
- Wikipedia, Nachtgedanken von Heinrich Heine: https://de.wikipedia.org/wiki/Nachtgedanken